Ich kann das Gejammere nicht mehr hören. Weder von den lieben Kollegen noch aus dem Munde irgendwelcher Regierungspolitiker, die die Fallen, in denen manch einer jetzt steckt, selbst aufgestellt haben. Und die vor allem über Jahre beide Augen und Ohren mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, fest verschlossen gehalten haben.
Hört auf mit dem Gejammere
Ein Kommentar von Tomas Spahn
Seit Oktober 2015 beschreibe ich, wohin der Weg der Erdogan-Türkei führt.
Ich habe mich mit den Wahlmanipulationen ebenso auseinandergesetzt wie mit Erdogans herbeigeputschtem Staatsstreich.
Ich habe darauf hingewiesen, wie der Sultan von Ankara seine kurdischen Mitbürger kriminalisiert.
Ich habe dargelegt, wie in der Türkei ein rechtsstaatliches Instrument nach dem anderen beseitigt wurde und am Ende über 100.000 Menschen aus ihren Jobs vertrieben oder sogar eingekerkert, wenn nicht gar vernichtet wurden.
Ich habe beschrieben, dass sich Türkei-stämmige Deutsche nicht mehr trauen, in die Türkei zu fahren, weil sie aus verlässlichen Quellen wissen: Ihr Name steht auf den schwarzen Listen der Geheimdienste.
All das sollte also seit langem bekannt sein. Doch wirklich darüber erregt hat sich niemand.
Der Bundeskanzler unserer Republik fuhr weiterhin regelmäßig zum Kotau zum Muslimbruder Recep. Die Massenverhaftungen und die Kriminalisierung ganzer Volksgruppen fanden in den Medien bestenfalls als statistische Zahlen statt. Selbst die Schließung von unabhängigen Medien verursachte gerade einmal ein vernehmliches Räuspern – und ein kurzes Aufflackern des Unverständnisses, als Cumhurriyet-Chefredakteur Can Dündar wegen des Spionage-Vorwurfs aus dem Land der Osmanen floh.
Nun also traf es Deniz Yücel, einen 1973 in Flörsheim am Main geborenen türkischen Staatsbürger mit deutschem Ersatzpass. Denn nichts anderes ist Yücel aus Sicht der türkischen Behörden: Ein türkischer Staatsbürger.
Offenbar gänzlich naiv oder von einer unübertrefflichen Hybris erfüllt, ließ Yücel sich in der Türkei freiwillig in Polizeigewahrsam nehmen. Die kollegiale Aufmerksamkeit war ihm sicher. Es folgte nun die Untersuchungshaft – und es steht ein Verfahren an wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und anderer, herbeigesuchter Verbrechen gegen Erdoganistan.
War es der Reisepass?
Was hat diesen Türken mit deutschem Reisedokument getrieben, sich in diese Gefahr zu begeben? Hat er darauf vertraut, dass die deutschen Diplomaten ihn schon raushauen werden, weil er doch so pfiffig war, sich neben seinem türkischen Pass auch noch den deutschen zu beschaffen? Sollte es so sein, dann hätte er als angeblich investigativer Journalist doch wissen müssen, dass dieses Deutsche Amtspapier bei einem türkischen Staatsbürger für die Behörden in Ankara nicht mehr wert ist als jenes Abreißpapier, das an privaten Orten auf zumeist weißen Rollen angeboten wird.
Ist Yücel blind in diese von den Desintegratoren deutscher Politikstuben aufgestellte Falle gelaufen? Hat er darauf vertraut, ganz nach Belieben den richtigen Pass zücken zu können, um den unfähigen Behörden hier oder dort eine lange Nase zu zeigen?
Nun, wie gut das funktioniert, durfte bereits vor einigen Jahren der russische Staatsbürger und Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Nikolaus Haufler erfahren. Der war in seine russische Heimat gereist und legte, um sich unnötige Strapazen zu ersparen, bei der Ausreise seinen russischen Pass vor. Dummerweise war dieses Dokument jedoch abgelaufen. Als Haufler nun seinen deutschen Ersatzpass zückte, lachten die russischen Ausreisekontrolleure nur. Wer einen russischen Pass hat, ist russischer Staatsbürger. Und mit dem deutschen Papier, damit könne er sich … naja, Sie, lieber Leser, wissen schon.
Vertraut auf Mutter Merkel?
Hat Yücel vielleicht darauf vertraut, dass Mutter Merkel ihn beim bösen Onkel Erdogan sofort raushauen würde? Schließlich reist sie ja regelmäßig nach Ankara zum Report und zum Beschimpfen-lassen. Also müsste da doch etwas gehen.
Vielleicht 1.000 mehr Flüchtlinge nach Deutschland abschieben, als im Kontingent steht? Einer davon ein Yücel? Vermutlich eher nicht. Aber ein paar klammheimliche Euros mehr in Richtung Ankara würden es vielleicht schon richten können, um den aufrechten Journalisten heim ins Reich zu holen.
War es nur die Hybris?
Vielleicht aber war es auch einfach nur diese schier unbegrenzte Hybris, mit der viele Journalisten durch die Welt laufen und sich selbst einer Kaste der Unantastbaren zurechnen. An einen Top-Journalisten wie Deniz Yücel, der gern einmal unter die Gürtellinie tritt, würde sich schon niemand herantrauen. Schließlich hatte er zu seinen Zeiten bei der TAZ ungerührt den deutschen Bundespräsidenten verunglimpfen können. Er durfte Thilo Sarazin wünschen, dass „der nächste Schlaganfall sein Werk gründlicher verrichten“ möge. Er hatte die Freiheit, den deutschen Papst Joseph Kardinal Ratzinger als „Hitlerjungen“ und dessen argentinischen Nachfolger als „Junta-Kumpel“ herabzuwürdigen.
Yücel nutzte das Recht auf freie Meinungsäußerung in vollen Zügen aus – und er lebte sie auch noch aus, nachdem er als Türkei-Korrespondent mit einer ersten Verhaftung 2015 die Gelbe Karte gezeigt bekommen hatte. All das focht ihn nicht an – er wühlte weiter im Dreck der Erdogan‘schen Familienbande. Das mag man ihm allen Entgleisungen zum Trotz hoch anrechnen – doch sollte bitte niemand so tun, als könne ihn die erneute Inhaftierung wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen haben. Wer mit dem Feuer spielt, der kann sich Brandblasen holen. Wer das Streichholz so lange in den Finger hält bis alles Holz verbrannt ist, der wird sich noch lange an die Schmerzen erinnern.
Keine Rechtfertigung der Inhaftierung
Selbstverständlich: Nichts rechtfertigt die Inhaftierung Yücels. Zumindest nichts von dem, was in einem Rechtsstaat als Pressefreiheit selbstverständlich ist. Wobei Attacken auf dieselbe heute selbst im vorgeblichen Pressefreiheits-Musterländle Deutschland nur dann auf mediale Erregung stoßen, wenn es jemanden aus der Mainstream-Presse trifft. Als es um Werbeboykottaufrufe gegen unabhängige, bürgerliche Medienportale ging, da herrschte beredtes Schweigen.
Ich bin weit davon entfernt, das türkische Vorgehen gegen Yücel zu rechtfertigen. Denn Unrecht ist Unrecht. Gleich, wen es trifft. Und darum, liebe Kollegen, geht es.
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Schreie des Entsetzens, die Autokorsos und all die anderen Übersprungshandlungen erregter Gutmenschen ebenso laut zu hören gewesen wären, als der Despot vom Bosporus anfing, gegen sein eigenes Volk nach eben diesem Muster vorzugehen. Doch die Medien lullten sich in ihrer Yücel‘schen Naivität der Hybris selbst im Anti-Putsch-Taumel ein. Kein einziger im Mainstream, der bereit war wirklich Tacheles zu reden. Es galt, Erdogan zu schonen, diesen freundlich-multikulturellen Regierungspartner in Sachen Flüchtlingsabwehr und Demokratievernichtung.
Das richtig laute Geschrei ging nun erst los, als es nach Dündar den zweiten in der Medienszene leidlich bekannten, türkischen Staatsbürger traf. Die weit über hundert anderen Journalisten, die Unbekannten, die in Erdogans Konzentrationscamps zwangsbeurlaubt sind – selbst sie waren bestenfalls mal eine Fußnote wert.
Pro-domo-Geschwafel der Selbsthypnose
Nein, ich kann das Gejammere und die Erregung nicht mehr hören. Bin ich Journalist, dann erhebe meine Stimme beim kleinsten Anschein von Unrecht. Egal, gegen wen es sich richtet und wie unbedeutend der Betroffene ist. Wenn ich aber erst die Klappe aufreiße, wenn es einen aus meiner selbsternannten Kaste der Unangreifbaren trifft; wenn dann am besten noch wieder Schimären wie die „Vierte Gewalt“ aus der Mottenkiste der Selbstüberhöhung gezaubert werden, dann ist das für mich die Krönung journalistischer Unredlichkeit. Pro-domo-Geschwafel der Selbsthypnose.
Mich interessiert nicht, ob der in Erdogans Kerkern Einsitzende ein Lehrer in der türkischen Provinz, ein kurdischer Schüler, ein ausgenutzter Wehrpflichtiger oder ein Korrespondent der „Welt“ ist. Mich interessiert, ob das System, das den einen wie den anderen inhaftiert, damit ein staatlich organisiertes Unrecht begeht. Denn auch Journalisten sind nicht gleicher als gleich – obgleich sie es vielleicht gern so hätten und immer wieder so tun als ob.
Wer Augen hatte, zu sehen …
Deshalb zum Ende noch ein Wort zu dem unterstützenden Gejammer von Merkel, Maas und Co., über das Ihr, liebe Kollegen, nun so schlagzeilenmäßig berichtet.
Glaubt Ihr im Ernst, dass es diese Herrschaften auch nur im Geringsten interessiert, wie es diesem auch von ihnen ungeliebten Schreiberling im Erdoknast ergeht?Am Ende interessiert er sie ebenso viel oder wenig wie all die Namenlosen, die dort bereits schmachten.
Merkel und Co wissen, dass sie ihm mit dem Doppelpass ein im Ernstfall nutzloses Dokument in die Hand gedrückt hatten, das ausschließlich ihre eigene Unfähigkeit zum sachgerechten Umgang mit potentiellen Neubürgern kaschieren sollte.
Sie wissen auch, dass ihre Proteste einen Erdogan noch weniger interessieren werden als die Wasserstandsmeldungen der Ägäis.
Was sie aber vor allem wissen: Ein paar zornige Yücel-Kamelle, passgenau in die im Selbstmitleid zerfließende, selbstreferenzierende Journalistenschar geworfen, sichern für einen oder zwei Tage positive Berichterstattung. Also wird mal kurz öffentlich geschimpft – dem Doppelbürger Yücel wird es nicht nützen. Und es wird auch nichts daran ändern, dass die schlechten Türkei-Berater in Kanzleramt und Außenministerium weiterhin das Märchen vom islamischen Prinzen erzählen werden, der schon zu einem weisen Großwesir mutieren wird, wenn er erst jede Konkurrenz vernichtet hat.Wer Augen hatte zu sehen und Ohren hatte zu hören, der konnte schon vor Jahren wissen, wohin die Reise im islamischen Erdoganistan gehen würde.
Wer jetzt so tut, als sei die Yücel-Verhaftung ein völlig unerwartbares Sakrileg, der stellt damit nur seine eigene, journalistische Unfähigkeit unter Beweis.Hört endlich auf, Euch und Eure Kaste selbst zu bemitleiden und dem Volk damit die Ohren voll zu jammern.Hört auf, im Selbstmitleid Eurer Hybris zu zerfließen.Macht einfach wieder Euren Job als Journalisten. Und seid Euch dabei bewusst, dass Ihr auch nicht anderes und vor allem nichts besseres seid als die Kioskverkäuferin oder der Müllmann von nebenan.