Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Hier wird das Problem des zunehmend mangelhaften Schutzes der Bürger vor Gewalttaten und dessen verfassungsrechtliche Relevanz erörtert. (Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 GG)

Juristisches Versagen, Feigheit oder was sonst?

Beitragvon Santo » Do 28. Apr 2011, 14:37

"[...]
Berlin – Schwarze gescheitelte Haare, dunkler Anzug, die lederne Aktentasche in der linken Hand. Es ist kurz nach 9 Uhr morgens, als Richter Joachim M.* (46) zum Amtsgericht Tiergarten aufbricht.

Vier Tage ist es her, da sollte er dort Recht sprechen, über Torben P. (18), der in der U-Bahn einen Handwerker (29) fast zu Tode trat. Doch Richter Joachim M. verschonte den Brutalo-Schläger und Juristensohn vor dem Knast. Eine Entscheidung, die ganz Deutschland entsetzt.

BILD FRAGTE NACH: WIESO LIESSEN SIE DEN SCHLÄGER LAUFEN, HERR RICHTER?

Der Richter zu BILD: „In der Öffentlichkeit kommentiere ich meine Urteile nicht. Aber: Die Staatsanwaltschaft hat bis heute keine Einwände gegen meine Entscheidung erhoben. Ich gehe auch NICHT davon aus, dass dies noch geschieht“, sagt Joachim M.

Holger Freund, (48) Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, hält die Entscheidung des Richters trotzdem für fragwürdig. Der Staatsanwalt sagt zu BILD: „Der Richter hätte sich sicherlich anders entscheiden können. Meiner Meinung nach wäre es die richtigere Entscheidung gewesen, für Torben P. die Untersuchungshaft anzuordnen.“

Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, geht noch weiter. Im ARD-Morgenmagazin sagte er: „Die Haftverschonung ist ein falsches Signal nach außen. Ich kann nicht nachvollziehen, dass der junge Mann wieder ganz normal in die Schule geht, als ob nichts wäre.“ Auf die Frage, woran das liegen könne, antwortet Pfeiffer lapidar: „Vielleicht, weil sein Vater Jurist ist ...?“


Warum schreitet der Berliner Senat nicht ein?

Mareke Aden vom Bundesjustizministerium zu BILD: „In Deutschland herrscht die im Grundgesetz verankerte gewaltenteilige Rechtsordnung. Justiz und Richter sind unabhängig, das ist ein hohes Gut des demokratischen Rechtsstaates.“

Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft angekündigt, binnen zwei Wochen Anklage gegen Torben P. wegen versuchten Totschlags zu erheben. Ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe."

Quelle:
http://www.bild.de/news/inland/koerperv ... .bild.html

Anmerkungen:
Angesichts der Äußerung des Sprechers der Staatsanwaltschaft, der konstatiert haben soll, dass der Richter nicht nur anders hätte entscheiden können, sondern dass dies auch die richtigere Entscheidung gewesen wäre, stellt sich natürlich die berechtigte Frage, wieso die StA keine geeigneten rechtlichen Schritte gegen die richterliche Entscheidung eingeleitet hat. Es ist nicht damit getan für eine schnelle Anklageerhebung zu sorgen, was ohnehin für jeden Fall gälte, sondern richterliche Fehlentscheidungen sind zunächst mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln gerade wegen der richterlichen Unabhängigkeit zu korrigieren um eine weitere sozialschädliche Verweichlichung des Justizapparates zu verhindern. Doch anscheinend geschieht, wie eigentlich nicht anders zu erwarten war, wieder einmal nichts in dieser Hinsicht und der durch juristische Fehler begünstigte gesellschaftliche Verfall nimmt seinen Lauf...
Meine Annahme einer völlig falschen Signalsetzung in meinem vorletzten Beitrag findet hier durch einen Kriminologen dankenswerte Bestätigung. Dem möchte ich noch Folgendes hinzufügen: Der Mensch ist nichts weiter als ein hoch entwickeltes Säugetier.
Nach den Grundsätzen der operanten Konditionierung bringt es aus kriminalpsychologischer Sicht dabei nur etwas, wenn schnell und unmissverständlich harte Konsequenzen erfolgen, um weitere und denselben Täter von gewalttätigem Verhalten abzuschrecken...
Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen.

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Nur schnelle, harte Konsequenz verspricht objektiv Besserung

Beitragvon Santo » Do 28. Apr 2011, 14:57

Meine Annahme einer völlig falschen Signalsetzung fand durch den Kriminologen Pfeiffer dankenswerte Bestätigung.
Dem möchte ich noch Folgendes hinzufügen: Der Mensch ist objektiv nichts weiter als ein hoch entwickeltes Säugetier.
Nach den Grundsätzen der operanten Konditionierung bringt es aus kriminalpsychologischer Sicht dabei nur etwas, wenn schnell und unmissverständlich harte Konsequenzen erfolgen, um weitere und denselben Täter von gewalttätigem Verhalten abzuschrecken... :!:
An dieser Stelle melden sich für gewöhnlich, wie auch schon öffentlich, diejenigen meines Erachtens unrealistischen Stimmen, sogar von angeblichen Experten, die da meinen intonieren zu müssen, harte Strafen führten nicht zur Abschreckung. Diese Annahme setze zunächst einmal voraus, dass es in Deutschland harte Strafen geben müsste, um so etwas überhaupt behaupten zu können. Schon damit wäre diese Behauptung widerlegt, da es hierzulande, wenn überhaupt kaum als hart bezeichenbare Strafen gibt, was schon die international vergleichsweise "harmlose" Höchststrafe von im Grundsatz 15 Jahren eindrucksvoll belegt. Betrachtet man sich dann Urteile im Einzelnen näher, so wird die Vermutung immer mehr zur Gewissheit, dass sich die hier wieder einmal behauptete These, harte Strafen führten nicht zur Abschreckung, für Deutschland in keinster Weise belegen lassen dürfte. Man lässt Vergewaltiger und Kindesmisshandler auf Bewährung laufen, spricht bei Gewaltdelikten Jugendlicher Strafen aus, die die Bezeichnung nicht einmal wert erscheinen, obwohl die Täter das Unrecht durchaus einzusehen in der Lage sind, etc. etc..
Was Konsequenz und hartes Vorgehen zu leisten in der Lage ist wurde durch den Inhalt des Eingangsartikels dieses Strangs deutlich klar gemacht. Dem ist von Seiten der Gegner eines solchen Vorgehens bislang nicht nur nichts Besseres, sondern nicht einmal etwas Gleichwertiges entgegengesetzt worden.
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(Jugend-)Strafrecht auf den Prüfstand

Beitragvon Santo » Fr 29. Apr 2011, 14:10

AlexRE hat geschrieben:@Santo

Zur Meidung von Missverständnissen will ich das noch etwas präzisieren. Wut, Haß & Co. können nach der Rechtsprechung dann niedrige Beweggründe sein, wenn diese Emotionen ihrerseits auf einer sittlich niedrigstehenden Denkweise beruhen:

Gefühlsregungen wie Wut, Ärger, Haß und Rache kommen nach der Rechtsprechung in der Regel nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Niedrige Beweggründe 16; Eser in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 211 Rdn. 18 m. w. N.).


http://www.recht-in.de/urteil/gefuehlsregungen_wie_wut_aerger_hass_und_rache_kommen_nach_der_rechtsprechung_in_der_regel_nur_dann_als_niedrige_beweggruende_in_betracht_wenn_sie_ihrerseits_auf_niedrigen_beweggruenden_beruhen_3_str_149_03_bgh_beschluss_106077.html

Die in der Praxis so wichtige Konstellation, dass gewaltgeneigte Kriminelle einfach aus allgemeinem Frust Aggressionen gegen ihnen völlig unbekannte Menschen richten, subsumieren die Gerichte aber einfach nicht unter diese Definition, obwohl der BGH auch gesagt hat, dass die völlige Abwesenheit von Beweggründen für Aggressionen auch einen niedrigen Beweggrund aus der Wut oder dem Hass machen würde. Das liegt vermutlich weniger in der (Rechts-) Natur der Sache, sondern vielmehr an der hohen Zahl der Fälle. Bevor sie Abertausende von Jugendlichen in jedem Jahr wegen versuchten Mordes unter Aufgabe des Erziehungszwecks des Jugendstrafrechts zu langen Haftstrafen verurteilen, fabulieren sie lieber weg, was nicht sein darf.


Wenn schon die völlige Abwesenheit von Beweggründen für Aggressionen aus Wut oder Hass einen niedrigen Beweggrund macht, wie seitens des BGH vorgegeben, so kann nicht nur, sondern muss meines Erachtens in Fällen menschen-, bzw. lebensverachtender Vorgehensweise auf einen niedrigen Beweggrund oder sogar Grausamkeit (bei für den Täter erkennbaren Qualen des Opfers), als Mordmerkmal erkannt werden. Das kann und darf nicht von der Zahl der Taten abhängig gemacht werden, denn das geht schon allzu deutlich in Richtung sachfremde Erwägungen. Darüber hinaus sind gerade diejenigen, welche derartige verharmlosende Entscheidungen treffen, für die hohe Zahl der Taten zumindest mitverantwortlich. Auch der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts ist, was dessen Altersvorgaben und -einteilungen betrifft, schon seit Jahren überfällig, um dringendst auf den Prüfstand gestellt zu werden. Einige der möglicherweise irgendwann einmal zutreffend gewesenen Vorgaben sind heute längst nicht mehr zeit- und lebensgemäß. Wer einem 18-jährigen zubilligt alle rechtlich verfügbaren Rechte wahrnehmen zu können, muss konsequenter Weise von diesem auch verlangen für alle rechtlichen Konsequenzen für dessen eigenem Fehlverhalten einstehen zu müssen, es sei denn die Gründe der §§ 20, 21 StGB lägen vor. Wer über die Einsichtsfähigkeit verfügt Unrecht zu tun muss auch die volle Härte der Konsequenzen "spüren". Das kann und darf nicht vom Alter, sondern allein von der pesrsönlichen Einsichtsfähigkeit abhängen. Dadurch korrigiert sich die häufige Ausrede von Entwicklungsverzögerungen nahezu von selbst, da auch Entwicklungsverzögerte durchaus eine klare Einsicht in das Unrecht ihres Tuns haben können, was heute kaum angemessene Berücksichtigung durch die Richter findet.
Außerdem erscheint es, bei allem grundsätzlichen Verständnis für den Erziehungsgedanken unerträglich, dass das zukünftige Leben eines schwerkriminellen Jugendlichen höher bewertet wird, als das Leid des Opfers, welches unter Umständen für den Rest seines Lebens schwere gesundheitliche und wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen muss, während ein Krimineller allein schon aufgrund seines jungen Alters eine Bevorzugung erfährt. Hier müssen unzweifelhaft lebensnähere Grundsätze entwickelt werden.
Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen.

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Strafanzeige wegen versuchten Mordes

Beitragvon Santo » Fr 29. Apr 2011, 15:12

"Opfer-Jurist Thomas Kämmer: „Wir werden Strafanzeige wegen versuchten Mordes aus niederen Beweggründen erstatten. Die Tat passierte mit menschenverachtendem Vernichtungswillen. Daran gibt es keinen Zweifel, wenn man sich die Bilder anschaut.“"

Quelle:
http://www.bild.de/news/inland/koerperverletzung/kuschel-justiz-gibt-mir-einen-tritt-ins-gesicht-17630276.bild.html

Kommentar
Wie es scheint wird der Anwalt des Opfers in dessen Namen Anzeige wegen versuchten Mordes erstatten, und das völlig zu Recht, wie ich bereits erwähnt habe. Wenn die offensichtlich menschen- bzw. lebensverachtende Handlungsweise des Täters nicht als niedriger Beweggrund angesehen werden sollte, was dann?
Dann allerdings drängen sich Fragen zu der Ausbildung und der grundsätzlichen Befähigung deutscher Richter und Staatsanwälte auf, Lebenssachverhalte noch neutral, realitätsnah und sachlich zutreffend bewerten zu können. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass es um bestimmte Ausbildungsbereiche der deutschen Justiz nicht gerade zum besten bestellt zu sein scheint, was bereits die von Alex erwähnte grundsätzliche Definition des Begriffs niedrige Beweggründe seitens der Rechtsprechung nahelegen könnte. Selbst wenn man dort noch keine Abstriche machen würde käme man kaum umhin deutschen Strafrichtern in den letzten Jahrzehnten ein sinkendes Verantwortungsbewusstsein zu bescheinigen, was die negative Einflussnahme auf gesellschaftlich soziale Prozesse durch sachliche Fehlentscheidungen und die daraus resultierenden falschen psychologischen Signale und deren äußerst negativen Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung betrifft.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon GasGerd » Fr 29. Apr 2011, 15:57

Zu dem Bild - Link habe ich gerade einen Text bei gmx verfasst:

In diesem Fall scheint die "Kuscheljustiz" an einen unbequemen Nebenkläger geraten zu sein:

"Opfer-Jurist Thomas Kämmer: „Wir werden Strafanzeige wegen versuchten Mordes aus niederen Beweggründen erstatten. Die Tat passierte mit menschenverachtendem Vernichtungswillen. Daran gibt es keinen Zweifel, wenn man sich die Bilder anschaut.“"

http://www.bild.de/news/inland/koerperverletzung/kuschel-justiz-gibt-mir-einen-tritt-ins-gesicht-17630276.bild.html

In vielen anderen Fällen solcher Exzesse willkürlicher Gewalt liegen auch Mordmerkmale wie "Mordlust" oder "andere niedrige Beweggründe" vor, letzteres ist laut BGH gegeben, wenn Emotionen wie Wut, Hass, Rachebedürfnis usw. ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen oder den Willen zum Ausdruck bringen, grundlos zu töten.

Die Gerichte wollen den typischen Straßenschläger nur nicht die Zukunft verbauen ("ist ja nur das kritische Alter bei jungen Männern zwischen 16 und 24", das läuft da in allen Köpfen als Hintergrundprogramm mit) und den meisten Opferanwälten ist an einem reibungslosen schnellen Verfahren gelegen, das ihre Mandanten psychisch schont und hinsichtlich der Entschädigungsfrage zumindest keine Nachteile gegenüber einer zutreffenden Verurteilung wegen versuchten Mordes bedeutet.

Also einigen sich alle "unter der Hand" auf versuchten Totschlag. Wenn dann auch noch wie in diesem Fall hier die Sozialprognose hervorragend ist, kommt bei diesem fait accompli aller Beteiligten, gegen das Gesetz statt wegen versuchten Mordes lieber auf versuchten Totschlag zu erkennen, auch noch eine Bewährungsstrafe anstatt einer sehr hohen Zeitstrafe für versuchten Mord (auch nach Jugendstrafrecht ca. 10 Jahre) dabei heraus.

Dass das bei dieser kritischen Gruppe von 16 bis 24-jährigen jungen Männern als Feifahrtschein aufgefasst werden könnte und bei vielen friedlichen Bürgern der Eindruck entsteht, willkürlicher Gewalt ausgeliefert zu sein, ist für die mit dem jeweiligen Einzelfall befassten Experten anscheinend zu fernliegend, damit meinen sie nichts zu tun zu haben.

So eine Entwicklung der Rechtspraxis hat sich zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes ganz sicher keiner der Autoren / Autorinnen vorstellen können.

Da heißt es:

"Artikel 1.

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu SCHÜTZEN IST VERPFLICHTUNG aller staatlichen Gewalt.

(...)"


gmx.de > Alkoholverbot in U-Bahnen?
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Fr 29. Apr 2011, 17:43

Vom privaten Forum hierher kopiert:

CarlCarlsen hat geschrieben:Der Fall, auf den sich das bezieht, ist zwar schon etwas älter, aber es passt hier in den Strang eigentlich ganz gut rein. Es gibt zu dem Fall "Sven G." einen aktuellen Aufsatz in der NStZ, den sich Interessierte zu Gemüte führen können:

Erb, NStZ 2011, 186

Das Urteil des BGH und mehr noch das Urteil der Eingangsinstanz kommen darin alles andere als gut weg. Der Aufsatz findet recht deutliche Worte für die tatrichterliche Würdigung des in Rede stehenden Sachverhalts.


CarlCarlsen hat geschrieben:Der Fall, auf den sich das bezieht, ist zwar schon etwas älter, aber es passt hier in den Strang eigentlich ganz gut rein.


Das passt allerdings hier herein, obwohl wir auf diesem Unterforum hier noch einen Strang zum allgemeinen Teil des StGB, also auch zum Notwehrrecht haben:

Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Der Fall mit dem Informatikstudenten ist nämlich mit den hier besprochenen Fällen Marke "Kuscheljustiz" genauso verbunden wie die Garantenstellung mit einer Unterlassungstat nach § 13 StGB.

Wenn dieselbe Staatsgewalt, die das Notwehrrecht äußerst restriktiv auslegt und in Einzelfällen geradezu verleugnet, weil man eine Tendenz zur Selbsjustiz befürchtet, dann die erst durch den Staat wehrlos gemachten Bürger nicht mit den gebotenen Mitteln schützt, ist das Ergebnis nicht mehr und nicht weniger als Staatsterror gegen die friedlichen und wehrlos gemachten Menschen in diesem Land.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Fr 29. Apr 2011, 18:25

CarlCarlsen hat geschrieben:Der Fall, auf den sich das bezieht, ist zwar schon etwas älter, aber es passt hier in den Strang eigentlich ganz gut rein. Es gibt zu dem Fall "Sven G." einen aktuellen Aufsatz in der NStZ, den sich Interessierte zu Gemüte führen können:

Erb, NStZ 2011, 186


Ich habe im Netz etwas zu dem Aufsatz gefunden:

Die Entscheidung ist in jeder Hinsicht unhaltbar und führt im Ergebnis zu einer gesetzeswidrigen Vertauschung der Rollen von Täter und Opfer. (..) Die bayerische Justizministerin ist aufgefordert, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, ein [Wiederaufnahmeverfahren] zur Ausräumung des offenkundigen Justizunrechts unverzüglich und mit größtem Nachdruck von Amts wegen zu betreiben.


http://forum.jurawelt.com/viewtopic.php?f=45&t=41132

Meine Güte, so etwas von einem Juraprofessor aus der 1. Reihe, dem Kommentator des § 32 im Münchener Kommentar zum StGB. :shock:

Der Mann hat natürlich vollkommen recht. Ich hoffe inständig, dass diese klaren Worte auch dem betriebsblindesten Strafrichter etwas auf die Sprünge helfen, bevor es nur wegen der beruflichen Deformationen von ein paar hundert Richtern zu ernsthafter Unruhe in Deutschland kommt.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon Ricarda » Fr 29. Apr 2011, 19:16

In der bei Juris veröffentlichten Kurzbeschreibung zu dem Aufsatz von Professor Erb heißt es unter anderem:

Alsdann wird sowohl das Vorgehen des Staatsanwalts als auch das des Landgerichts besprochen. Das Verhalten der beiden Parteien sei eklatant fehlerhaft gewesen. Zudem schätzt der Urheber den Fall rechtspolitisch ein und beleuchtet dabei sowohl den Druck der Öffentlichkeit als auch die tödliche Abwehr. Abschließend fasst der Autor die Ergebnisse seiner Arbeit zusammen und appelliert an die objektive Betrachtung des Sachverhalts durch den Leser.


Dies sind die genauen Angaben zum Aufsatz, also mit vollständigem Titel und Fundstelle:

"Volker Erb
Zur Aushöhlung des Notwehrrechts durch lebensfremde tatrichterliche Unterstellungen
- Zugleich eine Besprechung von LG München I, Urt. v. 9. 1.2009 - 1 Ks 121 Js 10 459/08 ( "Fall Sven G." ) -
NStZ 2011, 186-193"
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Sa 30. Apr 2011, 11:24

Im April 2010 brachte Report München einen Beitrag mit dem Titel "Risiko Zivilcourage - wie Helfer zu Tätern werden". Leider kann ich diesen Beitrag in der ARD - Medathek nicht finden. Ich habe aber auf einem Forum ein Protokoll des Inhalts gefunden. Dort haben sich weitere Juraprofessoren sehr kritisch zu der gegenwärtigen Rechtsprechung in Sachen Notwehr / Nothilfe geäußert:

http://www.forumfuerdeutschland.de/articles.view.871.html?search=fazit

Risiko Zivilcourage

Sie sind dazwischen gegangen, als ein Mitbürger angegriffen wurde; sie haben Mut gezeigt. Für diesen Einsatz landeten sie vor Gericht und bekamen einen Strafbefehl. report MÜNCHEN über den fragwürdigen Umgang von Staat und Justiz mit Zivilcourage.


Nachgestellte Szene: Eine Busfahrt von Landshut nach Ergolding. Ein anscheinend betrunkener Fahrgast attackiert die anderen Insassen. Viele Fahrgäste kriegen Angst, verlassen den Bus. Nur einer kommt dem Busfahrer zur Hilfe, Christian Walter. Dabei verletzt er sich schwer an der Hand, kann fortan seinen Beruf nicht mehr ausüben. Christian Walter verliert seine Lebensgrundlage, seinen Job, wohnt jetzt wieder bei seinen Eltern. Sechs Jahre lang kämpft er um eine Rente, noch immer braucht er dringend notwendige Operationen.

report-Video: Risiko Zivilcourage: Wie Helfer zu Tätern werden Sie sind dazwischen gegangen, als ein Mitbürger angegriffen wurde; sie haben Mut gezeigt. Für diesen Einsatz landeten sie vor Gericht und bekamen einen Strafbefehl. report MÜNCHEN über den fragwürdigen Umgang von Staat und Justiz mit Zivilcourage.

Christian Walter:
"Man kann keine sozialen Aktivitäten mehr betreiben, man hat immer das schlechte Gefühl, das man das Geld der Eltern ausgibt. Das ist sehr entwürdigend. Menschenunwürdig, eigentlich."

Rückblende. September 2009: Der Fall Dominik Brunner entsetzt ganz Deutschland. Der Münchner hatte vier Kinder beschützt und das mit seinem Leben bezahlt.
Was folgt, ist ein Aufschrei des Entsetzens.

Uli Hoeneß, am "20.12.2009":
"Lassen Sie uns von unserem Recht auf Zivilcourage aktiv Gebrauch machen. Mischen wir uns ein, wenn es nötig ist und weisen wir die Gewalt in ihre Schranken!"
Horst Seehofer, am "14.09.2009":
"Wir versuchen alles Menschenmögliche zu tun, dass Leute, die Zivilcourage in unserem Lande einbringen, auch stärker geschützt werden."

Alles nur Lippenbekenntnisse?

Prof. Reinhard Böttcher, Vorsitzender Weißer Ring:
"Man kann nicht einerseits fordern, dass die Bürger Zivilcourage zeigen, und sich in Gefahrenlagen für den Mitbürger engagieren und ihn dann hängen lassen, wenn er dabei angegriffen wird, und Verletzungen erleidet. Das ist schmählich."

Szene nachgestellt: Ein anderes Beispiel. Eine Schule in der Nähe von Ahlen. Ein Schüler wird brutal von mehreren Jugendlichen verprügelt. Selbst als der Junge schon am Boden liegt, treten sie weiter auf ihn ein. Walter Petker sitzt im Auto, wartet auf seine Kinder. Für ihn ist schnell klar: Hier muss er einschreiten und dem wehrlosen Kind helfen.

Walter Petker:
"Ich bin direkt auf das liegende Kind zu, das immer noch am Boden lag und hab ihm gesagt, dass es jetzt Schutz hat, dass ihm nix passieren kann, dass er, wenn es ihm gesundheitlich möglich ist, aufstehen kann, wenn es ihm möglich ist."

Der Schlimmste der Schläger will sich aus dem Staub machen. Der Vater stellt die Angreifer zur Rede, die sollen sich beim Opfer entschuldigen.

Walter Petker:
"Da hab ich nur hinterhergerufen, weil ich die Situation wirklich feige fand, ob er jetzt ein feiger Pisser ist, oder ob er noch mal zurückkommt und sich wenigstens bei seinem Opfer entschuldigt."

Seine Zivilcourage wird vom Staatsanwalt beantwortet. Mit einem Strafbefehl wegen Beleidigung: 200 Euro soll der Nothelfer zahlen.

Walter Petker:
"Ich war mehr als perplex, ich konnte es erst gar nicht zuordnen, und nachdem ich es geöffnet hatte, hieß es plötzlich: Wegen Beleidigung. Das zieht einem die Beine weg. Das musste ich erst mal verdauen."

Erst nach massiven öffentlichen Protesten, aufgeregten Leserbriefen in Zeitung und Internet stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.

Prof. Werner Beulke, Lehrstuhl für Strafrecht, Uni Passau:
"Eins ist ganz klar: Bei dieser Sache mit dieser Vorgeschichte hätte der Staatsanwalt ganz unschwer einstellen können. Er hätte einstellen können ohne jede Sanktionierung."

Wie möglicherweise auch im nächsten Fall.

Szene nachgestellt: Tatort U-Bahn Station in München, Herbst 2009. Ein Betrunkener bedrängt eine Frau. Als die sich wehrt, kommt Passant Uwe W. zur Hilfe.

Uwe Walther:
"Es war zehn vor eins. Und dann auf einmal explodiert da vorn die Lage, zieht der eine aus und haut die Flasche ihr drüber."

Die Frau bricht schwer verletzt zusammen. Uwe W. ist sofort zur Stelle und hilft dem Opfer. Der Täter will sich aus dem Staub machen. Uwe W. will ihm die Flasche wegnehmen, bevor der Betrunkene weitere Menschen attackieren kann. Es kommt zum Handgemenge. Ein Schubser gibt den anderen, der Täter fällt auf die Gleise und bricht sich den Arm.

Uwe W. wollte helfen, doch das Gericht sieht das ganz anders. Es verurteilt den Helfer. Zu 600 Euro Strafe, wegen gefährlicher Körperverletzung. Wir konfrontieren das Gericht mit der Kritik an dem umstrittenen Urteil. Erklärungsversuche.

Ingrid Kaps, Pressesprecherin Amtsgericht München:
"Ich hab großes Verständnis dafür, dass es eine ganz schwierige Situation ist für jeden Einzelnen, der in eine solche Lage gerät. Aber ich denke, man muss sich immer vor Augen führen, dass Gewalt - ganz gleich, von wem - immer einer Rechtfertigung bedarf. Und das, glaub ich, kann man sich auch für sich selber merken: "Ist jetzt das Maß an Gewalt, das ich ausübe, tatsächlich jetzt noch der Situation angemessen, oder reagiere ich über?"

Aber kann der Helfer in solch einer Stresssituation überhaupt einschätzen, wie viel Gegenwehr gesetzlich erlaubt ist?

Prof. Werner Beulke, Lehrstuhl für Strafrecht, Uni Passau:
"Spontan kann man eben nicht so alles abwägen. Das ist die große Schwierigkeit in diesen Fallgruppen. Und die Richter sind dann zu juristisch. Das liegt an ihrer Ausbildung, an ihrer Mentalität, was sie auch sonst immer machen. Sie sind dann nicht lebensnah genug. Das muss man dann leider ganz ehrlich sagen."

Doch welche Auswirkungen haben solche Streitfälle auf die Bereitschaft auch künftig noch Zivilcourage zu zeigen?

Uni Göttingen. Eine Gruppe um Prof. Schulz-Hardt hat das Phänomen Zivilcourage erstmalig realitätsnah untersucht. Ein Feldversuch mit versteckter Kamera. Das Ergebnis: Erschreckend. Nur fünf Prozent der Untersuchten sind überhaupt bereit, helfend einzugreifen. Das belegen die Filmaufnahmen. Doch was, wenn genau diese wenigen Helfenden dann auch noch verurteilt werden?

Prof. Stefan Schulz-Hardt, Soziologe Uni Göttingen:
"Diese ganzen Urteile mögen juristisch alle völlig einwandfrei sein, aber wir haben ohnehin nur fünf Prozent von Menschen, die jedenfalls in unseren Experimenten, die sich zivilcouragiert verhalten, das heißt, wir haben in der Gesellschaft ohnehin nur relativ wenige Menschen, die Zivilcourage zeigen. Die könnten natürlich auch noch abgeschreckt werden, und dann sind wir vielleicht irgendwann mal bei Null."

Genau dieses Fazit hat auch Christian Walter für sich gezogen.

Christian Walter:
"Wenn man ehrlich ist, kann man nicht sagen, dass sich Zivilcourage lohnt. Es ist auf alle Fälle gesünder und für das weitere Leben besser, wenn man wegsieht."

Doch wegschauen, wenn einer Hilfe braucht: Das wäre eine fatale Entscheidung, die niemals Schule machen darf.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Sa 30. Apr 2011, 16:52

Vom privaten Forum hierher kopiert:

shakespeare hat geschrieben:ich habe zu diesem thema ebenfalls ein wenig recherchiert + dieses hier noch gefunden:

http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=5521808


SWR 3 Saarlandwelle

07.02.10 Zivilcourage: Wenn Helfer zu Opfern werden



Ich finde besonders die Schilderung der brutalen Treterei durch die Krankenschwester gleich zu Anfang der Sendung beeindruckend. Wenn nur Menschen Strafrichter werden dürften, die so etwas aus nächster Nähe miterlebt haben, würde die Rechtsprechung zu der willkürlichen Gewalt dieser hochmütigen Kriminellen sehr wahrscheinlich ganz anders ausehen.
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