Ich will Zeugnis ablegen ...

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Ich will Zeugnis ablegen ...

Beitragvon maxikatze » Do 20. Aug 2020, 21:22

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten
Tagebücher 1933 bis 1945 von Victor Klemperer

Die Tagebuchaufzeichnungen, die der Literaturwissenschaftler und Professor Victor Klemperer mit dem Beginn der Naziherrschaft im Januar 1933 begonnen hat, geben den Lesern erschütternde Einblicke in ein Leben, dass vom ersten Tag der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst von Schikanen, die sich von Jahr zu Jahr, später von Monat zu Monat und sich schließlich täglich bis zur Lebensgefahr zuspitzten.
Ich würde sagen, dass er sein Leben teilweise sogar dem Umstand zu verdanken hatte, dass seine Frau Eva keine Jüdin war, sondern beide in sogenannter "Mischehe" lebten und deswegen nicht zu den ersten Juden gehörten, die zum "Abtransport" ins Ghetto nach Polen, nach Theresienstadt oder Auschwitz entweder von zu Hause abgeholt oder schriftlich aufgefordert wurden, sich zum genannten Termin am Bahnhof einzufinden hatten.
Auch die ihm zugewiesene Zwangsarbeit in Dresden, u. a. auch bei Zeiss Ikon schützte ihn vor dem Vernichtungslager.
Bus und Bahn durften er und alle anderen Juden längst nicht mehr benutzen, sondern musste den weiten Weg zu Fuß gehen, mit abgelatschten, kaputten Schuhen - auch im Winter.

Seine Tagebucheintragungen schrieb er von Anfang an unter Lebensgefahr. Denn sie durften keinesfalls bei den stattfindenen und in unregelmäßigen Abständen der Wohnungsdurchsuchungen durch die Gestapo gefunden werden. Das hätte sofort den Kopf gekostet. Deshalb brachte er, bzw seine Frau, die Aufzeichnungen immer bei einer eng vertrauten Person in Sicherheit, die keine Durchsuchungen befürchten musste.
Es wurde bei Durchsuchungen mehr oder weniger wertvolles Eigentum beschlagnahmt, nicht selten wurden die Leute angespuckt und dabei schwer misshandelt.

Die Naziherrschaft hatte sich schnell verfestigt und es wurden nach und nach Gesetze erlassen, die ein normales Leben, ganz besonders nach 1935, für Juden immer mehr unmöglich machten. Sie durften so gut wie nichts besitzen, auch nicht das eigene Auto.
Das Radio wurde ihnen verboten, mussten es abgeben oder es wurde bei der Wohnungsdurchsuchung von der Gestapo konfisziert; ja sie durften nicht mal eine Zeitung kaufen. Auch seine Schreibmaschine durfte er nicht behalten. Selbst Garderobe musste dann und wann abgegeben werden - für eine "Spende" als der Krieg bereits in vollem Gange war.
Aus dem eigenen Haus wurden auch die Klemperers vertrieben, um Nazibonzen oder sonstigen Günstlingen zu einer Villa zu verhelfen. Victor und Eva Klemperer mussten mit ihren wenigen Habseligkeiten mehrmals in ein "Judenhaus" umziehen. Bei jedem Umzug verschlechterte sich ihre Gesamtsituation.
Es war den Juden am Ende der 30er Jahre verboten, sich auf der Straße aufzuhalten. Einkaufen war ihnen ebenfalls nur noch nur zu streng geregelten Zeiten möglich. Auch nicht jede Straße durfte von ihnen betreten werden. Es war 1938, da kam die Aufforderung, sich bei der zuständigen Polizeibehörde zu melden, um eine Kennkarte zu beantragen. Aufgezwungen wurde ihnen, den zusätzlichen Namen Israel für Männer und Sarah für Frauen zu tragen.
Im selben Jahr wurde Juden die Approbation als Arzt entzogen, mit der Ausnahme nur noch Juden behandeln zu dürfen. Victor Klemperer bekam schon 1935 sozusagen Berufsverbot - er wurde zwangspensioniert. Seine Wirkungsstätte war die Technische Hochschule Dresden.

Der Judenstern musste sichtbar angebracht und festgenäht werden. Den Stern unterm Mantel zu verstecken galt als ein Verbrechen und bedeutete bestenfalls ein Gefängnisaufenthalt. Meistens aber war es ein Grund, denjenigen sofort auf Nimmerwiedersehen "abzutransportieren".
Die Nazis haben es den Juden sogar verboten, ein Haustier zu halten. Also kein Hund, keine Katze und kein Vogel durfte behalten werden. Wer ein liebgewordenes Tier hatte, wurde gezwungen es einschläfern zu lassen. Es war den Leuten sogar unter Strafe verboten, ihr Tier an Bekannte abzugeben, um es zu vor der Spritze zu retten. Es musste lt Gesetz eingeschläfert werden - kein Erbarmen.
Immerzu kamen neue Gesetze, die das Leben dermaßen erschwerten, dass nicht wenige von ihnen sich das Leben genommen haben, weil ihnen in der schweren, ausweglosen Situation eine Ausreise aus Deutschland nicht mehr gestattet wurde und um im letzten Augenblick einer Deportation zu entgehen.
Im Mai 1942 war es soweit; Klemperers mussten ihren Kater Muschel zum Tierarzt bringen... Victor Klemperer beschrieb den Kummer der beiden Eheleute darüber.

Die "Judenverschickungen" nach Polen blieben kein Geheimnis. Auch nicht, was dort oft genug gleich nach der Ankunft in einem KZ geschah. Jeden Tag, beinahe stündlich mussten Klemperers damit rechnen, dass die Gestapo schon wieder Hausdurchsuchungen durchführt, sich am Eigentum vergreift, es zerstört, die Leute dabei verprügelt, mitnimmt und die Gequälten in ein Ghetto deportieren könnte oder gleich an Ort und Stelle die Leute totschlagen. Der Gestapo war es egal. Damit mussten die Klemperers über Jahre hinweg leben. Auch von Pöbeleien und Demütigungen auf der Straße hat Victor Klemperer berichtet.
Dazu noch die Lebensmittelknappheit. Meistens musste Essen erbettelt werden. Denn Juden bekamen nicht so viel Essenmarken wie die "Arier". Oft genug waren die Kartoffeln bereits halb verfault oder es gab nur ein wenig trockenes Brot. Krankheiten waren damit vorprogrammiert und die Klemperers waren auch davon betroffen.

Währenddessen kamen die Alliierten nur schleppend voran. Immer mehr Leute aus dem engeren Bekanntenkreis wurden deportiert und "Mischehen" waren auch nicht mehr davon befreit. Dann kam die Nacht des Bombenangriffs auf Dresden. Klemperer schreibt in seinen Unterlagen von etwa 200.000 Toten. Viele seiner Nachbarn konnten sich nicht mehr retten. Sein "Abtransport" von der Gestapo stand bevor. Ihn und seiner Frau rettete nur das Durcheinander nach dem Bombenangriff im Februar 1945. - Umgehend den Judenstern abgerissen und aus Dresden geflohen - bis nach Bayern. Gerettet!


>>" Wir letzten also sollten am 16. II abtransportiert werden, in den sicheren Gastod. Am 13. II aber brach Dresden in 40 Nachtminuten zusammen, unser Judenhaus in der Zeughausstr war in 2 Minuten eine Fackel und in 5 Minuten ein Trümmerhaufen. (…) Es herrschte nun ein völliges Chaos u. ein unsäglicher Höllenzustand. Wir mußten für tot gelten; da riß ich den Judenstern herunter, u. wir flohen."<<

Am 10. Juni 1945 kamen die Klemperers zurück nach Dresden.
Eva Klemperer (69) starb im Juli 1951 in Dresden.
Victor Klemperer (79) lebte bis Februar 1960 - ebenfalls in Dresden.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ ... mperer.jpg
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Re: Ich will Zeugnis ablegen ...

Beitragvon AlexRE » Do 20. Aug 2020, 21:54

Da kann man sich Herrn Höckes Skala "wohltemperierter Grausamkeiten" so richtig plastisch vorstellen.
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Re: Ich will Zeugnis ablegen ...

Beitragvon Staber » Do 20. Aug 2020, 22:03

Wer mehr über die damalige Zeit und die Atmosphäre aus Gewalt, Hass und Unsicherheit erfahren möchte ist bei diesem Werk richtig.
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Re: Ich will Zeugnis ablegen ...

Beitragvon maxikatze » Fr 21. Aug 2020, 08:49

AlexRE hat geschrieben:Da kann man sich Herrn Höckes Skala "wohltemperierter Grausamkeiten" so richtig plastisch vorstellen.


Ja - und er sprach vom „Ausschwitzen“ seiner Gegner. Dass man da noch nicht gesagt hat, Stopp, bis hier und nicht weiter!, verstehe ich nicht. Aber zumindest wissen das die AfD-Spitzen, die Parteiausschlüsse anstreben und durchziehen.
Die Bemerkung von Höcke war imgrunde genau so eine schlimme Bemerkung, wie die von Sandra Lust (Linke), die auf der "Strategiekonferenz" in Kassel tatsächlich meinte, man solle 1% Reiche erschießen. Haben gemäßigte Linke noch nicht gemerkt, dass sie mit Linksradikalen ein Problem haben? Die Parteiausschlüsse vermisse ich gänzlich bei den Linken.

Staber hat geschrieben:Wer mehr über die damalige Zeit und die Atmosphäre aus Gewalt, Hass und Unsicherheit erfahren möchte ist bei diesem Werk richtig.

Um auf die Tagebücher zurückzukommen, sie sollten in der Schule zur Pflichtlektüre werden. Damit in der heutigen Zeit jedem klar wird, dass sich Juden nie wieder auf die Schlachtbank führen lassen werden, sondern sich zu wehren wissen.
Bei meiner Enkelin wurde in der Schule das Tagebuch der Anne Frank behandelt. Die Aufzeichnungen von Victor Klemperer halte ich zum Lesen für den Unterricht empfehlenswerter.
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Re: Ich will Zeugnis ablegen ...

Beitragvon Staber » Fr 21. Aug 2020, 09:38

Maxikatze schrieb:

dass sich Juden nie wieder auf die Schlachtbank führen lassen werden,


Nicht nur die........
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Re: Ich will Zeugnis ablegen ...

Beitragvon maxikatze » So 6. Feb 2022, 08:56

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