EuGH-Rechtsprechung

Für Bekanntmachungen u.ä.

EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Mi 23. Dez 2009, 11:45

Dieses Thema hat ungewöhnlich viel Raum auf unserem thread "Thema des Tages" eingenommen. Weitere Beiträge dazu bitte ich hier zu schreiben.

Zunächst meine Antwort auf den letzten Beitrag von DJ_rainbow:

DJ_rainbow hat geschrieben:Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

12 Uhr Mittags, High Noon. Es wird spannend bei der Justiz, der Hure der Mächtigen: Das BVerfG hat erneut gegen den EuGHMR entschieden, zumindest erst mal eine Einstweilige Anordnung versagt.

Zitat:
"2. Die im Hinblick auf das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde Nr. 19359/04) gebotene Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung."

Quelle: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20091222_2bvr236509.html


Aus der Begründung des Beschlusses:


b) Erginge die einstweilige Anordnung, wiese aber das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet zurück oder gäbe ihr ohne die Folge einer Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Maßregelvollzug statt, so entstünden ebenfalls schwerwiegende Nachteile. Die Fachgerichte haben in nachvollziehbarer Weise die Gefahr bejaht, dass der Beschwerdeführer infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Diese Annahme ist nachvollziehbar begründet; sie beruht unter anderem auf einem widerspruchsfreien und plausiblen Gutachten eines externen Sachverständigen. In Anbetracht dessen überwiegt insoweit das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers.


Diese Güterabwägung bezieht sich ausschließlich auf den Zweck der Sicherungsverwahrung, den Schutz der Allgemeinheit vor potentiellen Wiederholungstätern. Die neue Postition des EuGHMR, dass es sich bei der SV um eine faktische Weiterbestrafung nach Strafende handele und deshalb das Rückwirkungsverbot gelte, bleibt bis jetzt aussen vor.

Das BVerfG wird sich dazu also erst positionieren, wenn die grosse Kammer des EuGHMR entschieden hat.
Der Stuttgarter OB Rommel:

Ich trete überall, wo das notwendig ist, der Meinung entgegen, der Umstand, dass die Diktatur zu allem fähig war, berechtige dazu, die Demokratie zu allem unfähig zu machen.
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Mi 13. Jan 2010, 16:57

Zu früh gefreut, der BGH hat in dem berüchtigten Heinsberger Fall die nachträgliche Sicherungsverwahrung unter Verweis auf das Urteil des EuGHMR endgültig abgelehnt:

Gemäß einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg vom Dezember kann eine solche Maßnahme in Deutschland nicht nachträglich angeordnet werden. Der Vorsitzende Richter Armin Nack beurteilte die Rechtslage als "ausgesprochen kompliziert". Der 59-Jährige war 1985 wegen der Vergewaltigung einer Minderjährigen zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt worden. Nach einer erneuten Misshandlung zweier Schülerinnen war der Mann zu einer weiteren Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt worden.


Quelle: elo-forum.net
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon Hase » Mi 13. Jan 2010, 17:06

Interview-Auschnitt mit ARD-Rechtsexperten
"Bei Sicherungsverwahrung ist Gesetzgeber am Zug"

Möller: Es gibt verschiedene Ansätze. Man könnte zum Beispiel in die ehemalige DDR gucken, die zwar keine Sicherungsverwahrung kannte, aber im zivilrechtlichen Bereich ein Unterbringungsgesetz hatte. Denkbar wäre, dass auch wir ein Gesetz bekommen, dass die zivilrechtliche Unterbringung nach einer abgebüßten Strafe regelt.

Wir haben dies ja schon zum Beispiel im Bereich der Psychatrie. Wir können Menschen, die psychisch krank sind, in bestimmten Fällen in eine Klinik einweisen. Also in diese Richtung könnte es möglicher Weise gehen. Da ist der Gesetzgeber gefragt. Dann hätte man auch das, was der europäische Gerichtshof für Menschenrechte moniert hat, vom Tisch: nämlich die Sicherungsverwahrung als Strafe.

http://www.tagesschau.de/inland/sicheru ... ng114.html
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Do 14. Jan 2010, 17:11

Die Überwachung des Sexualverbrechers ohne Sicherungsverwahrung kostet 100.000,-- Euro im Monat:

Die Kinderhilfe kritisierte, wegen der Gesetzeslücke müsse nun die Polizei den Mann an dessen Heimatort rund um die Uhr bewachen. Dies koste rund 100.000 Euro im Monat. Es sei unverständlich, dass der Gesetzgeber dagegen nicht einschreite. Die Deutsche Polizeigewerkschaft erklärte, mit einer "unzureichenden, um nicht zu sagen schlampigen Gesetzgebung" seien Sicherheitslücken geschaffen worden. Noch in diesem Jahr müsse das Gesetz zur Sicherungsverwahrung novelliert werden, forderte Gewerkschaftschef Rainer Wendt im MDR.


Quelle: n-tv.de
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Mi 12. Mai 2010, 12:21

Das Urteil des EuGHMR zur Verlängerung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Deutschland ist jetzt rechtskräftig. Der Widerspruch der Bundesregierung wurde zurückgewiesen:

Straßburg - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wies am Dienstag den Widerspruch der Bundesregierung gegen ein Urteil vom 17. Dezember ab. Damit ist die Verurteilung Deutschlands wegen der nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung eines Gewaltverbrechers rechtskräftig.


Quelle: spiegel.de

Unter den deutschen Sicherheitsverwahrten, die auf Grund dieses Urteils rechtswidrig festgehalten werden und jetzt freigelassen werden müssen, ist u. a. der herzallerliebste Dieter Degowski:

Bild

Das Bundesverfassungsgericht hatte zuvor keine Verletzung des Rückwirkungsverbots gesehen. Das halte ich auch immer noch für richtig.

Immerhin geht es bei der Sicherungsverwahrung ausschliesslich um Gefahrenabwehr und nicht um Bestrafung. Das Rückwirkungsverbot (= "nulla poene sine lege", Art. 103 Abs. 2 GG und Art 7 EMRK) ist aber zu 100 % strafrechtlicher Natur. Es gibt noch andere Rechtsgrundlagen für einen Freiheitsentzug ausserhalb des Strafrechts, nämlich nach Psychisch-Kranken-Gesetz und Seuchengesetz. Da geht es auch nur um Gefahrenabwehr.

Ich meine, dass dem EuGHMR hier ein grober Schnitzer unterlaufen ist.
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon Uel » Fr 14. Mai 2010, 14:28

..ich zitiere mich mal selbst, weil wir dies Thema schon mal hatten, ...und ich nicht zu einer gegenteiligen Position, wie z.B. Alex, Santo, BGH ect überzeugt wurde, ich vertrete also weiterhin auch die Position des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

von Uel: 20.12.2009 16:50: RE: Das Neueste S.31

Genauso gut wie ein Mensch, der kein Autokonstrukteur ist, durchaus die Qualität eines Autos beurteilen kann, genauso kann ein Laie das Endprodukt der Juristerei, die Gerechtigkeit beurteilen, der Weg dorthin ist für den Normalbürger zu Recht völlig uninteressant.
Juristen mögen aus taktischen Gründen ja 10 000 Begriffe für Sicherungsverwahrung erfinden, für den Täter und die Bevölkerung ist und bleibt es Strafe. Der lebt ja nicht in einem Luxushotel unter Hausarrest sondern sitzt weiterhin in seiner schäbigen Zelle. Wenn es anders sein sollte, so lasse ich mich gern eines Besseren belehren.

In dem hier verhandelten Fall hat der Täter >>>noch nicht einmal jemanden umgebracht<<<, wenn ich die Pressemitteilungen richtig gedeutet habe, und er soll also event. lebenslänglich eingesperrt bleiben, wohingegen Mörder nach 10 -15 Jahren wieder auf die Allgemeinheit losgelassen werden. Ein merkwürdiges Gerechtigkeitsverständnis, was uns da Juristen zumuten. Ich dachte es geht da zugunsten des Angeklagten im Zweifelfall bei der guten alten Justitia.

Das besonders in einer Zeit, da gerade Psychologen mit Gefälligkeitsgutachten überführt wurden, Gefängniswärter offenbar gekauft werden können und wir bei der Entmündigung von alten Menschen durch staatliche Stellen die absonderlichsten Horrorgeschichten von der Presse berichtet bekommen. Letzte Woche wurde gerade in den USA der Weltrekord für das längste Einsperren von Unschuldigen >>verbessert<<. Gerade mal 20 Jahre ist erst das willkürliche Einsperren und Zumessen von Haftbedingungen auf deutschem Boden vorbei und wir erlauben uns wieder Laxheiten beim Einsperren von Menschen?

Nur ein ordentliches Gericht darf die Macht haben, die Freiheit zu entziehen und es hat dann die kompletten Bedingungen der Strafe am Ende des jeweiligen Verfahrens zu verkünden. Mit nachlegen und doppelt bestrafen ist dann später Nichts mehr.

Nur dieses Gericht darf später eine Sicherheitsverwahrung aussprechen, aber nur wenn es sie vorher als Teil der Strafe in Aussicht gestellt hat. Und es hat die Objektivität und Professionalität der dann Beteiligten auch zu überprüfen. Denn einfache Querulanten und Sturköppe sind schon immer die Lieblingsopfer der Gefangenenbürokratie gewesen, wohingegen sich smarte, anpassungsfähige Täuscher auch dort schnell einen >>gewissen Respekt<< erwerben.

Wenn deutsche Richter Jahrzehnte lang Fehler aus Laxheit gemacht haben, wenn Bundesverfassungsrichter die Folgen ihrer Lebensperspektivtheorie für Mörder nicht schlüssig hinsichtlich der Auswirkungen des Bevölkerungsschutzes durchdacht haben, dann kann man doch nicht dafür das europäische Menschenrechtsgericht haftbar machen. Der deutsche Eiertanz entsteht doch nur, weil man angeblich wegen der Lebensperspektive nicht >>echt lebenslang<< einsperren kann. Wenn man ein Wort im Sinne von Neusprech verwendet und sich was in die Tasche lügt, muss man sich nicht wundern, wenn irgendwann die Rechnung präsentiert wird. Dann muss man selbst Schwerverbrechern Schadensersatz leisten.


....


Man sollte sich auch nicht der Illusion hingeben, man könne Bewertungskriterien entwickeln und Fachpersonal heranbilden, die die Zukunftsdeuterei ausreichend sicher leisten könnten, es bleiben immer reichliche Risiken, fragt sich nur, wer die verantworten will. Da könnte man mal Qualitätsmanagement einführen, Richter die xy Rückfall(r)taten wegen ungeeigneter Verurteilungen zu verantworten haben werden finanziell und beruflich zurückgestuft.

Im übrigen halte ich das auch für ein unzulässiges Delegieren von Verantwortung der Richterschaft auf ihre Nachfolger. Wenn die Richterschaft meint, brutalste Straftäter wieder auf die Gesellschaft zwecks deren Selbstverwirklichung loszulassen, so sollten sie auch dafür Verantwortung übernehmen und sich nicht hinter Psychologen, Therapeuten ect. verstecken.

Das Einzige, an dem man sich sicher orientieren kann ist die Tat. Ihre Schwere muss mit dem Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit abgewogen werden. Ein Gericht kann doch nicht mit Hilfe der Krücke Sicherungsverwahrung die Entscheidung auf die Zukunft vertagen.
Liebe Grüße
von Uel

Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke: --- Kein Plan übersteht den ersten Feindkontakt --- (gefunden bei Vince Ebert) Mein Zusatz: ... der Feind kann auch Realität heißen!
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Fr 14. Mai 2010, 14:48

Uel hat geschrieben:wenn deutsche Richter Jahrzehnte lang Fehler aus Laxheit gemacht haben, wenn Bundesverfassungsrichter die Folgen ihrer Lebensperspektivtheorie für Mörder nicht schlüssig hinsichtlich der Auswirkungen des Bevölkerungsschutzes durchdacht haben, dann kann man doch nicht dafür das europäische Menschenrechtsgericht haftbar machen. Der deutsche Eiertanz entsteht doch nur, weil man angeblich wegen der Lebensperspektive nicht >>echt lebenslang<< einsperren kann. Wenn man ein Wort im Sinne von Neusprech verwendet und sich was in die Tasche lügt, muss man sich nicht wundern, wenn irgendwann die Rechnung präsentiert wird. Dann muss man selbst Schwerverbrechern Schadensersatz leisten.


In Spanien sind heute noch sehr lange Gefängnisstrafen möglich, die einer lebenslänglichen Strafe gleichkommen. Dagegen hat sich der EuGHMR noch nicht ausgesprochen, wohl aber das deutsche Bundesverfassungsgericht.

Es geht hier also um deutsche Selbstbeschränkungen im Strafrecht, die laut EuGHMR nicht durch eine faktische Weiterbestrafung mit dem Etikett "Sicherungsverwahrung" umgangen werden dürfen.

Immerhin werden SV`ler in Haftanstalten untergebracht, wenn auch in gesonderten Blocks mit ein paar Hafterleichterungen. Vielleicht reichte es zur Auflösung des Konflikts zwischen BVerfG und EuGHMR schon, etwas an diesen Äusserlichkeiten zu ändern.
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Fr 23. Jul 2010, 13:50

Nach den Oberlandesgerichten Stuttgart, Nürnberg, Koblenz und Celle hat jetzt auch das OLG Köln einem nachträglich in Sicherungsverwahrung genommenen Straftäter trotz des EGHMR - Urteils die Entlassung versagt:


Oberlandesgericht Köln: Sicherungsverwahrung - Keine automatische Entlassung nach 10 Jahren trotz EGMR-Urteil

(...)

Es sei zwar richtig anzunehmen, dass der Gesetzgeber nicht dauerhaft gegen die Eur. Menschenrechtskonvention habe verstoßen wollen. Dies bewirke entgegen der Meinung anderer Oberlandesgerichte wie Hamm und Frankfurt aber keinen Automatismus dahin, dass Sicherungsverwahrte nach Ablauf von 10 Jahren sofort zu entlassen seien. Es sei vielmehr anzunehmen, dass der Gesetzgeber nach anderen Wegen zum Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Rückfalltätern gesucht hätte, wie z. B. durch eine Reform der Führungsaufsicht, wäre ihm der Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention schon seinerzeit bewusst gewesen. Die Gerichte seien nicht befugt, durch einfache Gesetzesauslegung schon jetzt im Vorgriff auf ein Gesetzgebungsverfahren Fakten zu schaffen.


Quelle: justiz.nrw.de

Das finde ich erstaunlich, mehrere Oberlandesgerichte wollen erst eine Gesetzesänderung sehen, obwohl die vom EGHMR festgestellte Menschenrechtsverletzung zu Lasten der Betroffenen permanent fortwirkt. Das hätte ich nicht gedacht. Wenn der BGH das auch so sieht, wäre es eine Gelegenheit, die Sicherungsverwahrung so umzugestalten, dass sie nicht wie eine quasi - Weiterbestrafung im Knast wirkt. Dann ist das Rückwirkungsverbot nämlich nicht mehr einschlägig, weil es nur noch um Gefahrenabwehr und nicht mehr um Strafrecht geht, und die Betroffenen müssten vielleicht gar nicht entlassen werden. Der EuGHMR hatte sich nämlich auf die äusseren Bedingungen der SV in Deutschland bezogen und nur wegen der Vollstreckung im Knast das rein strafrechtliche Rückwirkungsverbot als einschlägig angesehen.
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Do 13. Jan 2011, 21:22

Jetzt haben 3 Beschwerdeführer zusammen 125.000 € zugesprochen bekommen:

Die Straßburger Richter sprachen Herrn S. 70.000 Euro, Herrn K. 30.000 Euro und Herrn M. 25.000 Euro Schadenersatz zu. Das Geld muss die Bundesrepublik – sprich der Steuerzahler – aufbringen, was in weiten Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen dürfte.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zeigte sich im Gespräch mit „Welt Online“ empört: „Dass drei Tätern nun auch noch eine Entschädigung in Höhe von 125.000 Euro zugebilligt wird, ist ein Schlag ins Gesicht ihrer Opfer.“ Der Gerichtshof vernachlässige einmal mehr die Menschenrechte der Opfer und schütze die Täter: „Das kann nicht Sinn der Menschenrechtskonvention sein.“

(...)

In der Folgezeit entstand ein gesetzlicher Flickenteppich, zu dem die 2004 eingeführte „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ zählt.

"Gründsätzliche Klärung steht weiter aus"

Diese hatte die Bundesregierung am 26. August vorigen Jahres „für neue Fälle“ grundsätzlich abgeschafft. Psychisch gestörte Gewaltverbrecher sollen künftig in geschlossenen Heimen – nach dem Motto: Zimmer statt Zelle – untergebracht werden können.


Quelle: welt.de

Die CSU mal wieder, erst die deutschen Vorschriften zur SV verstümpern und dann dem EuGHMR den Sinn der Menschenrechtskovention erklären...

Jedenfalls scheint mir das Motto "Zimmer statt Zelle" grundsätzlich geeignet zu sein, das Problem des Strafcharakters der SV in Deutschland auszuräumen. Sicherer wäre allerding m. M. n., konsequent auf jedwede Einschränkung der Persönlichkeitsrechte der Sicherungsverwahrten zu verzichten, die nichts mit dem Sicherungszweck zu tun hat. Dafür müsste man allerdings auf Ideen der "Insel" - Art zurückgreifen.
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Re: EuGHMR - Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland

Beitragvon AlexRE » Mi 4. Mai 2011, 10:28

AlexRE hat geschrieben:Diese Güterabwägung bezieht sich ausschließlich auf den Zweck der Sicherungsverwahrung, den Schutz der Allgemeinheit vor potentiellen Wiederholungstätern. Die neue Postition des EuGHMR, dass es sich bei der SV um eine faktische Weiterbestrafung nach Strafende handele und deshalb das Rückwirkungsverbot gelte, bleibt bis jetzt aussen vor.

Das BVerfG wird sich dazu also erst positionieren, wenn die grosse Kammer des EuGHMR entschieden hat.



Das BVerfG hat heute entschieden:

Bundesverfassungsgericht kippt Sicherungsverwahrung

Das Bundesverfassungsgericht hat alle Vorschriften zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Der Gesetzgeber muss nun bis Juni 2013 neue Regelungen schaffen. Bis dahin gelten Übergangsvorgaben. Auch zum Umgang mit hochgefährlichen Straftätern äußerte sich das Gericht.


(...)

Bereits 2004 hatte Karlsruhe das reformierte Recht akzeptiert - und zugleich gemahnt, dass die Sicherungsverwahrung nicht zum "reinen Verwahrvollzug" werden dürfe. Häftlinge, so stellten die Richter fest, müssten zum Beispiel tatsächlich Chance auf eine Therapie als Weg in die Freiheit bekommen. Das aber ist bis heute nicht immer gewährleistet.

Die Richter in Karlsruhe verpflichten den Gesetzgeber in ihrem Urteil nun, ein "freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept" zu entwickeln. Die Betroffenen müssen demnach etwa durch qualifizierte Fachkräfte so intensiv therapeutisch betreut werden, dass sie "eine realistische Entlassungsperspektive" haben. Ihr Leben in Verwahrung muss zudem so weit wie möglich "den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst" und ihnen familiäre und soziale Außenkontakte ermöglicht werden.


Quelle: sueddeutsche.de

Dass das Leben in Verwahrung so weit wie möglich "den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst werden muss, führt wieder zu unserem alten GG-Aktiv - Thema einer Sicherungsverwahrung in einer nach außen abgeschlossenen Siedlung zurück, in der zumindest volljährige Angehörige jederzeit Besuchsrecht haben. Ich werde daher auf dem Unterforum für Vereinsmitglieder erneut zur Abstimmung stellen, ob wir den alten thread wieder veröffentlichen sollen.

Was die "intensive Betreuung durch qualifizierte Fachkräfte" zur Wahrung einer Entlassungsperspektive betrifft: Das halte ich schlicht und ergreifend für den Ausdruck einer politisch - ideologisch verzerrten Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit durch die Verfassungsrichter. Die Neigung, schwerste Verbrechen zu begehen, ist natürlich nicht regelmäßig "heilbar", das dürfte jedem Menschen klar sein, der nicht auf politischen Karrierewegen zum BVerfG oder EuGHMR gelangt ist. Die personelle Besetzung dieser Gerichte ist aber ein sehr weites und vielschichtiges Thema für sich, jetzt ist erst einmal die Frage der praktischen Durchführung einer verfassungsgemäßen und menschenrechtskonformen SV die politisch vordringlich zu diskutierende Frage.
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