Wir sind dann mal fort
Seit dem 19. Jahrhundert haben noch nie so viele Deutsche ihr Land verlassen wie heute. Der Mittelstand fühlt sich bedrängt. Die Flucht aus der Heimat ist zu einer Abstimmung mit den Füssen geworden.
Erschienen in der Weltwoche Nr. 6 vom 11. Februar 2010
Von Wolfram Weimer, Gründer der Zeitschrift Cicero und war bis 2009 deren Chefredaktor.
Alle vier Minuten verlässt ein Deutscher sein Land. An jedem einzelnen Tag verliert Deutschland ein ganzes Dorf, womit die Zahl der Auswanderer Dimensionen erreicht wie seit 120 Jahren nicht mehr. Der jetzt vorgelegte <<Migrationsbericht>> der Bundesregierung kommt daher wie ein statistisches Amtsblatt, in Wahrheit ist er ein Fanal.
Was die Angelegenheit so heikel macht: Es sind die Besten und Jüngsten, die genug haben und gehen. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert verlassen nicht etwa Analphabeten, Bauern und verzweifelte Arbeiter das Land. Deutschland erlebt einen Exodus des gebildeten Mittelstands.
Das Durchschnittsalter deutscher Auswanderer beträgt 32 Jahre, es sind Ärzte und Ingenieure, Wissenschaftler und Facharbeiter, Handwerker, Techniker und Dienstleister. Nach Angabe der OECD verliert Deutschland besonders viele Akademiker.
Als die Auswanderungswelle aufbrandete, dachte man zunächst an Steuerflüchtlinge oder einen gesunden Globalisierungseffekt beim Exportweltmeister. Inzwischen gibt es kaum eine Familie mehr die nicht betroffen ist, kaum ein Fernsehabend mehr ohne Serien wie << Mein neues Leben>> Goodbye Deutschland! Oder Umzug in ein neues Leben. Nach einer Umfrage würde jeder fünfte Deutsche es den Fernsehvorbildern gerne gleichtun.
Der Migrationsforscher Klaus Bade warnt unmissverständlich: Wir befinden uns in einer migratorisch suizidalen Situation. Während unser Sozialstaat Hunderttausende Unqualifizierter aus den Randzonen Europas anzieht, fühlen sich die jungen Vertreter des Leistungsmittelstands hierzulande immer fremder. Der Handwerksmeister, der in Australien nicht vom Bürokratenstaat bedrängt wird, der Arzt, der in Norwegen nicht zum Krankenhausbeamten degradiert wird, der Wissenschaftler, der in den USA bessere Forschungsbedinungen hat, die Hotelfachfrau, die in der Schweiz das .Doppelte verdient, aber weniger Steuern zahlt, der Bauingenieur, der in Arabien oder China sein Können vergoldet bekommt – die Motive wechseln. Eines eint sie alle: Anderswo geht es ihnen besser als daheim.
Das für die Deutschen, die sich für Jahrzehnte als die Wirtschaftwunder-Klassenbeste gefühlt haben, eine schockierende Erfahrung. Auf einmal arbeiten sie als Gastarbeiter in fremden Ländern, und wenn die Wirtschafselite der Welt sich in Davos trifft, dann sind die Hotelkellner die Deutschen.
Man spürt bei Auslandsreisen, dass die Dinge sich anderswo besser entwickeln. Die Ueberlegenheitsgewissheit, die jeden Sommerurlaub im Süden zu einem Selbtbestätigungs-Event gemacht hat, ist heute verschwunden. Avantgarde spürt man nicht mehr daheim, sondern in der Fremde. Damit sind die Kategorien der Orientierung für die nächste Generation der Talentierten vertauscht.
Wenn die Autobahnen in Andalusien inzwischen besser sind als im Ruhrgebiet, deutsche Schulen neben denen in Skandinavien wie Baracken aussehen, wenn ein deutscher Krankenhausarzt nur noch so viel verdient wie ein Pförtner in Abu Dhabi, wenn eine Facharbeiterfamilie so hohe Steuern und Sozialabgaben zahlt, dass ihr weniger übrigbleibt als einem Koch in Zürich, dann gehen sie eben. Immer mehr Menschen merken, dass ihnen Deutschland immer weniger bietet. Alleine 16 000 deutsche Ärzte haben inzwischen das Land verlassen. Ihre teure Ausbildung ist damit zu einer Subvention der Schweiz, Norwegens, Englands, der USA geworden. Während das offizielle Deutschland endlos über die Extreme von oben (Topmanager und deren Gier) und unten (das Harzt-IV-Prekariat) diskutiert, vollzieht sich ein Bruch der Gesellschaft in der Mitte. Sie zahlen immer höhere Abgaben, erleben Wohlstandsverluste, werden von Radarfallen und Steuererklärungen schikaniert, schicken ihre Kinder an schlechte Schulen und werden dem Wettbewerbsdruck der Globalisierung mit viel weniger Schutz ausgesetzt als die ganz unten und ganz oben. Der Mittelstand fühlt sich bedrängt im eigenen Land. Während die einen ihr Geld außer Landes schaffen, schicken die anderen die Kinder ins Ausland.
In der Welt der Ladenschlussgesetze, der Spielplatzverordnungen und Doppelformulare hat das Finanzamt mehr Deutsche zu Sündern gemacht als der Teufel selbst. Dass möglicherweise das hypertrophe Steuersystem nicht mehr zu seinen Bürgern passt, gilt als Majestätsbeleidigung bei einem Staats- und Bevormundungskult, der dem Staat sogar erlaubt, als offener Hehler von Datendieben aufzutreten.
Selbst wenn Deutschland bürokratisch halb erstickt, leistet es sich lieber eine Regulierungsbehörde mehr. Ordnungsämter gibt es flächendeckend. Deutschland schleicht lieber im muffigen Antiquitätenladen seiner Regelwelt umher, als dem Freihteitslüftchen das Fenster zu öffnen. So ist es beim Schornsteinfegerzwang wie bei der Getrennt-Müllsammlung. Die Endmoränen unserer Ordnungsideologie sind tief eingegraben im Alltag. Noch immer leben wir in der Denktradition von Hegels philosophischer Überhöhung der Staatsidee. Man schätzt die Macht von Obrigkeit und Ordnung höher als die Magie der Freiheit.
Wo Ordnung schon das halbe Leben ist, hat alles andere wenig Platz. Deshalb scheitert das Deutschland der Doktrinen zusehends daran, seinen talentierten Mittelstand zu binden. Die Flucht aus der Heimat ist jedenfalls eine Volksabstimmung mit den Füssen geworden – ein Alarmsignal aus der Mitte der Gesellschaft. Die Auswanderer revoltieren nicht, sie haben keine Gewerkschaftskampagne hinter sich, sie gehen einfach still und leise fort.
Deutschland war ein Vorzeige Land, heute hat es viele Obdachlose, Menschen die mehrere Jobs verrichten müssen und trotzdem noch auf der Strasse landen. Nicht die Reichen sind schuld dafür, sondern die Politiker, die dem Volk auch jedes Recht zum Dasein verunmöglichen, sie nicht wahrnehmen und nur den eigenen Profit beachten.