Berne. Wirtschaftswunder, blühende Landschaften und Exportüberschüsse: Wer die deutsche Wirtschaft vor allem damit verbindet, übersieht, was sich hinter den Kulissen abspielt. Sagt zumindest Hans See, ehemaliger Professor an der Fachhochschule Frankfurt. See hat es sich zur Aufgabe gemacht, die dunklen Seiten der Wirtschaft auszuleuchten. Was er dabei entdeckt hat, berichtete er jetzt im Rahmen der Berner Bücherwochen in der Kulturbühne
Großkonzerne enteignen mit kriminellen Machenschaften kleine und mittelständische Betriebe – davon ist der Referent Hans See überzeugt. Die Wirtschaft leistet massiven Widerstand gegen jegliche staatliche Einmischung in ihre Geschäftspolitik – so die Hauptthese des 79-Jährigen. Notfalls weiche sie in rechtsfreie Räume oder in Diktaturen aus. Oder neutralisiere mittels Bestechung oder Erpressung missliebige öffentliche Kontrollen, Gesetze und gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte.See erinnerte an die Siebzigerjahre, als Mercedes-Benz in Argentinien von der Bekämpfung störender Betriebsräte durch die Militärs profitiert habe, und erzählte von einem Unternehmen, das seine Produktion von China zurück nach Deutschland verlegt habe. Der Grund: Die zunehmenden Rechte chinesischer Arbeiter, Streiks und höhere Umweltauflagen hätten die Wettbewerbsvorteile inzwischen aufgezehrt.Oft sei das Ausweichen des Kapitals in rechtsfreie Räume jedoch gar nicht nötig, so See, da die Gesetzgebung der bürgerlichen Demokratien von Beginn an auf die Interessen der Besitzenden ausgerichtet worden sei. Ausdruck davon sei das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, das der kleinen Gruppe der großen Steuerzahler von vornherein den größten Einfluss im Parlament sicherte. Die Mittel, sich Vorteile zu sichern, haben sich nach Meinung des Referenten wesentlich verändert. Die Zerstörung des Urwalds in Brasilien zulasten der Einheimischen und zum Wohle westlicher Konzerne geschehe beispielsweise völlig legal. Nach den Gesetzen legal, aber in Wirklichkeit „das gigantischste Wirtschaftsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg“ war für Hans See die Arbeit der Treuhandanstalt, die die Betriebe der ehemaligen DDR abwickelte.Weitere Beispiele für die kriminelle Energie der Konzerne sieht der Referent in illegalen Rüstungsexporten und Geldwäsche. See berichtete von Steuer- und Zollfahndern, die nach der Aufdeckung solcher Fälle versetzt oder für psychisch krank erklärt wurden. Menschen wie der Soldat Bradley Manning, der zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er geheime Dokumente über die Vergehen von USA-Soldaten im Irak an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weiterreichte, und auch Edward Snowden sind für Hans See tragische Helden – sie bekämen die ganze Macht des Systems zu spüren. Die FDP-Politiker Flick und Lambsdorff hätten dagegen nach ihrer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit der illegalen Parteispendenpraxis der Siebzigerjahre erst richtig Karriere gemacht.
Diese und weitere Beispiele, auf die er vor vielen Zuhörern in Berne einging, sind Sees Ansicht nach Belege für ein kriminelles Wirtschaftssystem. „Der Untergrundkapitalismus ist hochgefährlich, weil er außer Kontrolle ist“, warnte der Referent. Denn Leidtragende seien die Demokratie und die Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft besäßen.
Kopiert aus dem Weser-Kurier vom 12.11.2013